Schrift ist überall. Vom ersten Blick auf den Wecker, das Checken des Handys, der Schrift auf der Cornflakes-Packung und den Toiletteartikeln im Bad … insgesamt bin ich in der ersten Stunde eines normalen Morgens auf 69 verschiedene Schriften gekommen.
Viele dieser Schriften nimmt man gar nicht bewusst wahr, dennoch interagieren wir ständig mit ihnen und sie beeinflussen unsere Entscheidungen.
Alle diese Schriften sind – mehr oder weniger – bewusst so eingesetzt worden. Die Wahl der Schrift ist ein Teil der Typografie. Aber Typografie geht darüber hinaus, sie ist der visuelle Umgang mit Text.
Jeder der einen Text schreibt hat das selbe Ziel: Der Text soll gelesen werden. Aufgabe der Typografie ist es einerseits die Lesbarkeit des Textes zu erhöhen, so dass sich der Leser auf den Inhalt konzentrieren kann und andererseits die Botschaft des Textes zu unterstreichen.
Manche meinen, es zählt nur der Inhalt eines Textes. So könnte ruhig jeder Text in Arial gesetzt sein. Und doch: die äußeren Werte zählen. Bei einem Date zieht man sich auch schön an, präsentiert sich von seiner besten Seite. Bei dem Date nehmen wir im Gespräch aber nur 10% des Inhalts über die Bedeutung der Worte wahr. Der größte Teil wird durch Intonation, Körpersprache und Kleidung kommuniziert. All das übernimmt die Typografie bei einem Text. Schrift ist mehr als ein Vermittler von Worten. Sie weckt Gefühle, Bilder und Assoziationen, meist noch bevor der Inhalt überhaupt erfasst werden kann.
Wie kann es sein, dass wir Zusammenhänge mit der Schrift herstellen, bevor wir überhaupt den Text lesen?
Wir empfinden runde Formen als freundlich, verbinden sie instinktiv mit Sicherheit, während eckige, zackige Formen aggressiv und gefährlich erscheinen. Diese Interpretation läuft parallel zu unseren physischen Erfahrungen. Wenn wir glücklich sind, sind unsere Gesichtszüge weich, beim Lächeln wird unser Gesicht rund. Hingegen wenn wir ärgerlich sind, sind unsere Gesichtszüge hart, unsere Körperhaltung ist verschlossen.
Andere Reaktionen auf Schrift haben wir im Laufe unseres Lebens erlernt. Wir haben bestimmte Schrift-Kategorien mit bestimmten Themen in Verbindung gebracht. Es heißt zwar „don’t judge a book by its cover“, aber tatsächlich ziehen wir automatisch Rückschlüsse auf das Genre des Buches, sobald wir auch nur die Schrift, in der der Titel gesetzt ist, sehen.
Schriften mit Serifen haben eine jahrhundertelange Geschichte. Die ersten Bücher wurden mit Serifenschriften gedruckt. Man verbindet mit ihnen daher Tradition und Wissen und nimmt automatisch an, dass der Artikel in der Serifenschrift (Baskerville) seriös recherchiert wurde. Den zweiten Artikel mit der serifenlosen Schrift (Anzeigen Grotesk) hält man eher für einen reißerischen Sensationsartikel, als für profunde Information.
Errol Morris versuchte 2012 durch ein Experiment auf nytimes.com den Einfluss einer Schrift auf die Glaubwürdigkeit eines Textes mit Zahlen zu untermauern. Ein Artikel wurde in einer von sechs ausgesuchten Schriften den Lesern angezeigt und am Ende wurden sie gefragt, wie glaubhaft der Artikel für sie war. 45.000 Personen nahmen an dieser Umfrage teil. Das Experiment ergab, dass Baskerville die glaubwürdigste Schrift ist. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass Baskerville immer die glaubwürdigste Schrift ist. Es kommt dabei auf den Kontext an, in dem die Schrift verwendet wird und auch auf den Inhalt, den sie transportiert. (Morris, Errol: Hear All Ye People; Hearken, O Earth (Part 1). 2012.)
Unsere Wahrnehmung, selbst unser Geschmackssinn wird von der Schrift beeinflusst. Dr. David Lewis hat bei einem Versuch Tomatensuppe verkosten lassen. Die eine wurde um 64% geschmacksvoller und frischer bewertet als die andere. Der einzige Unterschied: Die Schrift in der Speisekarte.
Die Suppe, die mit Lucida Calligraphy angeboten wurde, wurde eindeutig als die bessere Tomatensuppe angesehen. (Dr. Lewis, David: The Brain Sell. When Science Meets Shopping. 2013. Nicholas Brealey Publishing)
Bei der Typografie gibt es nicht die eine richtige Lösung. Das Wesentliche ist, dass der Inhalt klar kommuniziert wird – natürlich in einer möglichst ästhetischen Form.
Aber was nützt einem ein hübsches Verkehrsschild, wenn man es nicht rechtzeitig versteht. Bei einem Verkehrsschild geht es darum, dass es möglichst schnell, aus allen Winkeln und bei jedem Wetter erfasst und verstanden werden kann.
Die Affaire um die Stimmzettel in Florida zur Wahl des amerikanischen Präsidenten im Jahr 2000 zeigt, was für Auswirkungen Typografie haben kann.
In Florida wurden die „Butterfly Ballots“, die Wahlzettel anders gestaltet. In der Mitte des Ballots waren die Löcher für die Abstimmung. Links und rechts davon wurden die Namen der Kandidaten platziert, um die Schrift möglichst groß und damit möglichst leicht lesbar zu machen. Durch diese Art der Platzierung stand zwar Al Gore direkt unter Bush, das für Al Gore vorgesehene Abstimmungsloch war jedoch erst das dritte.
Es wird angenommen, dass mehr als 2.000 Demokraten dadurch ihre Stimme nicht für Al Gore abgegeben haben, sondern für Pat Buchanan, der auf der gegenüberliegenden Seite (zweites Loch) stand. Brisant wird das dadurch, dass Bush in Florida, dem wahlentscheidenden Bundesstaat, nur um 537 Stimmen vorne lag.
Der Typograf kann bewusst mit der Wirkung der Schrift spielen, Assoziation wecken, Bilder entstehen lassen und so Botschaften effektiv kommunizieren.
Natürlich wird das in der Werbung auch ausgenutzt. Ein massengefertigtes Produkt sieht aus, als ob es handgemacht wäre, ein Produkt mit 100 Zusätzen sieht aus wie frische Bioware. Wie immer in der Gestaltung gilt auch hier, es ist ein Gebot der Fairness nicht Erwartungen zu wecken, die nicht erfüllt werden.
Schrift ist aber nur ein Element, das der Gestalter einsetzen kann. Eine gelungene Kommunikation ist ein Zusammenspiel von Farbe, Bildern, Materialien….
Zu welchem Typografen gehen Sie?
– Hyndman, Sarah: Why Fonts Matter. 2016. Virgin Books.
– Butterick, Matthew: Practical Typography. 2010–16
Kaufentscheidungen werden zu einem Großteil aufgrund der Farbe getroffen. Laut Studien wird die Kaufentscheidung sogar zu über 80% von der Farbe beeinflusst.